Ein Auszug aus „Wandlung. Poetische Philosophie“

Die Gefühle verbinden sich; greifen aus; berühren – flügelförmige Tore aus nachtblauem Stahl. Kosten Widerstand, kosten ihn aus. Erhöhen den Druck, und die Tore gehen auf. Wie ein unsichtbarer Kopffüßler kriecht die Angst in mir empor. Saugt sich an den Lippen fest, hält tastend Ausschau und begreift. Schiebt sich, zwängt sich, stößt sich ins Innere zurück und nistet sich dort ein. Vergeblich, denn die Nervenbahnen haben sich wie Bogensehnen gespannt und singen, als sie  mich zwingen, die Tore zu durchqueren.

Jetzt? – ist alles Tod. Ist ein ewig währender Augenblick, in dem das Leben als eine Form des Todes existiert und der Tod als eine Variation des „Nichts“.
Das verbürgt ein altes Geschlecht. Ein einst aus Fleisch und Blut gebildetes Göttergeschlecht, das im Zeichen des Osiris durch jede Geste, jedes Wort, jeden Krieg nach Unvergänglichkeit im Reich des Todes strebte, nach ewigem Sein in einer Wüste aus Weiß, – und die Sinne, Gefühle, Instinkte krümmen sich. Ziehen, zwingen mich den Weg zurück, auf dem ich hierher gelangt bin. Durch eine Allee von Ölbäumen führt der Weg, die vor einem weißen Himmel wie schwarze Gerippe stehen, – und ich lasse das Reich des Todes wie ein sich langsam entfernendes Ufer zurück. Beschleunige den Lauf und atme mich zu mir, atme mich durch die sieben Himmel des sinnlichen Empfindens ins Leben zurück und finde mich im Kreislauf von Werden und Vergehen wieder: als ein Gejagter.

Denn sie ist überall. Ist unter! neben! vor! über! hinter! – ist in mir. Überfällt mich. Führt mich in die Irre. Treibt mich vor sich her wie ein verängstigtes Wild. Mir schwindelt, die Blicke suchen nach Halt. Versuchen sich an dem festzuhalten, was Blatt, Baum, Stein, Fluß, Himmel, Erde, Mensch, genannt wird, versuchen es vergeblich, denn sie ist immer schon da. Verspottet mich, erwartet mich an jeder Oberfläche, – da versinkt das Selbst in Zorn. In Hitze, die von Zelle zu Zelle springt und sich wie ein Flächenbrand in mir entlädt; in Rot, das den Körper und die Welt mit Krieg überzieht, und sie? Erschrickt und flieht. Und ich? Ihr hinterher, den Abhang hinunter, dem Abgrund entgegen: Doch der ist sie; ist – Illusion! Und sie ist nur durch mich! Und ich bin das Triumphlied des Selbst, das die Illusion durchbricht!

Der Atem geht schwer, geht: jenseits von Wahrheit und Illusion. Die erste? Ließ ich schon lange unter mir. Die zweite? Kehrt nicht zurück. Wie ich sie hetzte, sie zuletzt Auge in Auge vor mir her trieb, bis sie sich im Absurden verlor, da ließ ich von ihr ab. Jetzt hüllt mich Gelassenheit ein, legt sich um die heiße Stirn wie ein unsichtbarer Schleier, und die Nerven feiern ihren Sieg, feiern ihn ausgelassen. Besingen den einen Moment, der bleibt; den einen Augenblick, der ewig in den Himmel steigt, weil ihm das goldene Gestirn jenseits der Zeit die Absolution erteilt. Der beim Emporsteigen alles wie mit unsichtbaren Schwingen umfaßt und zu einem Ton vereint. Zum Grundton einer Welt, der fortan aus sich selbst entspringt und aus der eigenen Fülle heraus die Leere verbrennt, die sich als Hintergrund und Abgrund seiner selbst um ihn herum erstreckt. Der sich wie ein Stern selbst umkreist und aus sich ein All aus Farben und Formen, Klängen und Bildern erzeugt, das ihn unendlich ausdehnt und versucht und variiert, – und das Herz schlägt vor Freude aus und reißt mich mit. Trägt mich hinauf, hinab, zu mir, hinein in die treuesten Gestaltungen von Licht und Dunkel, bis die Spannung unerträglich wird, die Freude überfließt und wie ein Springquell aus den Augen bricht, der, wenn ich lache, aufwärts steigt, und der abwärts fällt, wenn ich weine, – oder ist es umgekehrt?
Ich tauche durch ein Bildermeer, durch Gebilde und Geschöpfe des Selbst, die in mir aufgehen  und untergehen, wie ich in ihnen auf- und untergehe. Ich schwebe zwischen Abgründen, wo Phantome Schemen erbeuten und Schemen Nebelschwaden; wo sich Schemen zu Begriffen wandeln und Begriffe zu Phantomen, um sich Schemen anzueignen. Ich werde von Wellenkämmen zur Sonne getragen, wo aus der Asche des Überlebten Lebenverbürgendes erwächst, das sich Herzschlag für Herzschlag mit mir verknüpft und zu einem Wert des Lebens wird, zu einem Ausgangs- und Endpunkt des sich Welt aneignenden Körpers; zu einem Knotenpunkt des Empfindens, der Erschütterung für Erschütterung, Erfahrung für Erfahrung, Erinnerung für Erinnerung immer mehr mit Leben erfüllt werden wird, – und in dem Wahrheit und Illusion unauflöslich zu einem Muster verwoben und dadurch aufgehoben sind.

Ist es das Denken, das fühlt? Oder das Gefühl, das denkt? – Das Empfinden verflüchtigt sich, wird vom Wind erfaßt und fortgetragen und streicht über die Oberflächen von Sand und Fels, Halmen und Blättern, Wasser und Haut, und schlägt sich nieder. Hinterläßt unsichtbare Spuren, die vielleicht ins Leben gerufen werden, irgendwann, um zu einer Geste, oder zu einem Tanz, oder zu einer Hymne zu reifen. So verklingt das eine und schafft Raum für das andere, das sich bereits Impuls für Impuls in mir ausbreitet wie dichtes Treiben von Schnee. Für das, was noch blutjung und unbestimmt ist und auf Einfluß hofft und vorwärts drängt, um sich als herrschende Kraft festzusetzen und auszudehnen. Manchmal lausche ich dem Gestöber der Impulse und lasse es gern geschehen, empfange ihr Auf und Ab wie eine wunderbare, noch ganz und gar zügellose chaotische Musik; manchmal greife ich einige heraus und verfeinere, vollende, verdichte sie, verdichte sie bis zur Unkenntlichkeit, doch jetzt?
Jetzt ergreift der Übermut die Instinkte, und die Instinkte ergreifen das konditionierte Selbst. Mag es, soll es sterben; ertrinken, unter einer Welle der Verachtung ersticken. Wie es tobt, wütet, schreit, – doch die Instinkte halten es fest, heiter und gelassen. Getränkt von der Gewißheit des Morgen, durchdrungen von der Weisheit des Gestern.
Lächeln, als sie den Tyrannen töten.
Gewiß, es wird schon bald wiederauferstehen und ja, schmatzend Einzug halten ins erschütterte Gewebe, um sich darin auszudehnen und festzusetzen, wieder mal: – doch um ein Herrschaftsmittel, um einen Glaubenssatz ärmer!
Wie ein Rudel blutgetränkter Hyänen ziehen sich die Instinkte zurück und legen sich in den Schatten des Unbewußten, während die Gefühle dem Einzug des falschen Selbst wie Rehe lauschen, bevor sie sich aufs offene Feld wagen; witternd, welcher Wert ihm diesmal abhanden gekommen ist, welcher moralbedingte Teil. Katzenhaft rollen sich Sehnen und Muskeln zusammen und schnurren, und flüstern mir zu: „Nicht alles durch Konditionierung Erworbene ist schlecht, nicht alles Selbsterschaffene gut“; und hüllen mich in ein oberflächliches Wohlbefinden wie in einen golddurchwirkten Traum, in dem die Augen träger und träger werden und zuerst die Hände, dann Arme und Beine nach und nach entschweben. Bis die Schwerkraft aufgehoben scheint, weil der Körper vom betäubenden Gesang der Muskeln und Sehnen angehoben und vorwärts bewegt wird, als werde er von einer sanften Brise erfaßt und fortgetragen.

ZWEITER TEIL

Was streift über das Gesicht? Über Haut und Haar? Über mich? – Wie schläfrig ist doch die Welt, wie schläfrig bin doch ich. – Was verschafft mir Kontur? Einen Eindruck von mir – durch einen Ausdruck von sich? – So schläfrig. So traumbefangen. – Ein Blatt? Ein Hauch? Ein Halm? – Ein Geräusch? Oder das Verrinnen der Zeit? – Kommt es von hier? Doch nichts. Oder von dort? Vorbei. – Bin ich noch? Atme ich noch? – Etwas sinkt herab. Etwas spricht. Etwas kehrt zu sich zurück. –
Das Empfinden faßt ins Leere, als der Zweifel nach mir greift und mich in die Unterwelt des Selbst hinunterzieht, wo alte Wertschätzungen wie Gespenster umgehen. Wie in Trance passiere ich die im Wind schaurig klappernden Überreste der Werte, die sich überlebt haben: die Skelette der Götter, Riesen und Dämonen, und die Begriffshülsen der Gründe, Wahrheiten und Abstraktionen,  und lasse die toten Phantome hinter mir.

Kehre in die Zwischenwelt zurück und gelange auf ein offenes Feld, das einst ein Garten war und jetzt verwildert ist, und in diesem Moment verstehe ich und lasse mich nieder. Die Gefühle bilden Wurzeln aus und durchstoßen mich und dringen tief ins Erdreich vor, und die Erde dringt in mich. Wie sie mich sättigt und tränkt, das Herz mit Geborgenheit erfüllt und den Duft des Mysteriums auf die Geschmacksknospen des Selbst träufelt: Da geht es auf. Geht auf und erblüht, und aus den Poren treiben Zweige, und aus den Zweigen Früchte; und die Früchte wandeln sich zu Gefühlen, und die Gefühle zu Gedanken. Und das Selbst ist wie ein See, der still und klar in mir liegt und durch den in diesem Moment die Geliebte zieht. Unsagbar zart ist sie, die Heilende, und unsagbar gewaltig, die Jagende, eine Tochter von Sonne und Erde, die ein Symbol und eine Verkünderin des Wandels ist: „Haltet fest und geht unter; oder laßt los und geht auf“, – und verliert sich in der Ferne.

Ich trinke eine Regung aus, die auf der Seelenhaut zergeht wie süßer Met; ich sättige mich an einer Stimmung, die mich wie der Duft von Heilkräutern durchweht; ich versinke in einem Ozean aus Gefühlen, der alle Sonnenaufgänge des Selbst in sich vereint, – und das Echo dieser Empfindungen wird zurückgeworfen und breitet sich aus und reist, – und reist weit, – und bleibt. Hält den Raum fest und die Zeit an und spannt sie zusammen, spannt sie ins Geschirr meines Verlangens und treibt sie an, die Geliebte zu suchen und einzuholen, die am Horizont verschwand, – und das Gespann zieht mächtig an, und das Herz ruft aus: „Was ist der Mensch? Ein schöpferisches Wesen, eingebunden in den Ozean des Lebens!“
War das ein Staubkorn? Eine Wolke? Ein Weltall? – Alles ist Tanz. Ein Weltall, das durch mich, das in mir, das außerhalb von mir tanzt; eine Wolke aus Staubkörnern, von denen jedes das Zentrum eines Sonnensystems ist und den Klang des eigenen Seins lauschend umkreist, – und schon treibt das Herz das Gespann zu einem immer hitzigeren Lauf an, bis das Selbst, bis der „Wagen des Selbst“ wie ein schimmernder Punkt durch den Äther schießt und Mitternacht und Mittag ineinander übergehen, als werde das All im Sekundentakt komprimiert: – Dann verweht das Geschehen, und die Welt scheint stillzustehen. Es fühlt sich an, als sei die Stille der Ursprung der Welt und ich nichts als ein Konglomerat aus Schwingungen und Tönen, das aus der Stille hervorgegangen und jetzt in sie zurückgekehrt ist.
Weshalb fühle ich, was nicht ist? Etwas schwebt. Etwas, das anwesend und abwesend zugleich ist oder vielmehr von Abwesenheit in Anwesenheit und von Anwesenheit in Abwesenheit übergeht. Etwas, das so lange in diesem Schwebezustand bleibt, bis es zu einem Teil von Werden und Vergehen oder zu etwas Unsagbarem geworden ist, – und etwas in der Stille fügt sich zu einer Frage, die mich ringförmig umgibt: „Weshalb zieht das, was ist, immer auch das nach sich, was nicht ist?“ – und die Worte lösen sich auf; und das Selbst erkaltet und fällt wie ein Stein aus der Stille.

Was sprechen Zeit? Sonne? Wind? „Die Geliebte ist nah“, und ich erinnere mich. Und die Erinnerung breitet sich wellenförmig aus; und von Vorfreude beseelt, stimmt das Herz ein Dankes-lied an; und der Verstand stimmt ein, weil er sich mit den Gefühlen verbunden weiß. Weiß: Sie bewahren ihn vor dem Sich-Verlieren in lebensfernen Abstraktionen, er sie vor dem Sich-ineinander-Verschlingen.
Das Lied nimmt mich mit und trägt mich weit durch die Landschaft der Innenwelt, die wie die Außenwelt aus Wald und Fels und Himmel und Erde zusammengesetzt scheint; durch eine Welt, die vom schöpferischen Selbst in bildhafter und stimmungsvoller Entsprechung zur Dingwelt ausgebildet worden ist. Sanft setzt mich das Lied auf dem Vorsprung einer felsgewordenen Stimmung ab und verläßt mich, – und ich falle in Bewegung und gelange auf einen Pfad, der abwärts durch einen Bergwald führt, immer tiefer in mich selbst hinein.
Eindruck für Eindruck folge ich dem Pfad, folge ich den Spuren der bildenden Vorstellungskraft, die mich lenkt und leitet und das Leben schon immer Reiz für Reiz umarmt und verwandelt und das Angeeignete, das augenblicklich Assimilierte so lange häuft und sammelt, bis es Stück für Stück zu einem Bestandteil, zu einem Geschöpf des fühlenden Selbst geworden ist, um es manchmal, wenn es notwendig ist, dem Verstand zur weiteren Gestaltung zu überlassen, um hier und dort geschliffen, begrifflich gefaßt und schließlich ins Außen eingebunden oder dort aufgestellt zu werden: als ein Sinnbild des Lebens, in dem Liebe und Fülle und Schönheit das Selbstverständliche, – und in dem Geistesniederungen wie der neidische Blick; die dumme Winkelperspektive; der Kampf ums Überleben nicht vorhanden sind.
Regung für Regung folge ich den Windungen des Pfads, bis ich zu jenem Ort gelange, wo Innen- und Außenwelt, Reiz und sinnliche Wahrnehmung, Himmel und Selbst endlos ineinander auf- und untergehen und ein und dasselbe zu sein scheinen, – und die Gefühle drängen vorwärts und verlieren sich in der Umarmung mit der Geliebten, die schon so unsagbar lange auf mich wartet. Mich ausfüllend, erfüllend, vollbringt sie sich, die Jagende, eine Insel im Ozean von Werden und Vergehen, wo mit Ewigkeiten spielende Momente fortwährend Glückseligkeit stiften. Durch mich hindurch geht sie, die Heilende, und bewirkt Versöhnung von „Licht und Dunkel“; schafft Überwindung der moralbedingten Spaltung; schenkt Vereinigung von Verstand und Gefühl, – und hält ihre Hand schützend über alle, die dem Wandel vertrauen und ihn geschehen lassen. Aus der Mitte der Welt wirkt sie, schimmernd in ein lautloses Lachen gehüllt, das mit der Botschaft in mein Innerstes fällt: „Du bist ins Paradies, bist zu dir selbst zurückgekehrt.“