Die Blaue Sonne

Es war ein langer Weg.
Doch dann – roter Wüstensand.
Und bald schon stand er am Rand
der heiligen Berge. Da war kein Weg

mehr. Nur dieses Rund der Berge,
eine in satten Rottönen strahlende Macht.
Beflügelt von neuer Kraft
stieg er voran, den Durchlaß zum Tal zu durchqueren;

durchquerte ihn, stand still. Gefühlsverbindungen
entstanden, bis er verschmolzen war mit der Atmosphäre,
die ihn umspielte. In ihr war Schwere,
die Schwere der Trauer, die sich aus den Erinnerungen

derer speiste, die einst hier gelebt.
Hier, in diesem Heiligtum, einem ins Azurblau
des Himmels gebetteten Bergmassiv, und Vertrauen
ging in ihm auf. Er war Zuhause. Und Verstehen.

Um ihn herum war das Alte, in ihm das Neue,
und er war hier, um Neues und Altes zu verbinden.
Doch der Tag war schon am Schwinden,
und er schritt voran, erfüllt von schöpferischer Freude.

II.

Das Glühen der Berge und die Erinnerungen
der Ureinwohner energetisierten ihn,
und eilig stieg er dem Ziel entgegen: einem ihn
hoch überragenden Plateau, dem Quell der Erinnerungen,

die ihn zu sich riefen. Er blickte empor. Versank in
einem violetten Horizont und in funkelndem Sternenspiel –
und lange war nichts als das Durchschauert-Werden von diesem Spiel sein Ziel –,
während der Geist in Lichtströme getaucht war und von Stern zu Stern zog: in

einigen wenigen Momenten, die sich zu Ewigkeiten dehnten,
dann der Ruf der Erinnerungen, und er hinauf, hinauf, hinauf.
Und bevor der Geist wieder bei ihm war, stand er schon auf
dem Plateau. Der Geist sah und stürzte herab, und er lehnte

mit dem Rücken an einer Felswand, während der Geist
auf dem erhobenen Arm wie ein Adler landete
und, glitzernd noch vor Sternenstaub, den heranbrandenden
Erinnerungen lauschte, die sich Stück für Stück zu einem geistigen

Ausdruck jenes Volks zusammensetzten, dem sie einst zugehörten.
Und schon bald wurden sie, er und sein Geist, von Wesenheiten umrundet,
die, in schillerndem Blau erglänzend, Geist und Wesen von ihm erkundeten.
Der Geist schlug vor Unruhe mit den Flügeln, er hatte mit einigen verstörenden

Bildern zu kämpfen, doch in ihm war Stille, und sein Wesen verband
sich sogleich mit der Energie der Wesenheiten. Heimat
ging auf, und der Geist schwebte schon bald im Aufwind dieser Heimat,
auf dem Kraftfeld der Lichtwesen, und aller Zweifel verschwand.

Der Kreis war befestigt, die Nacht brach herein, und er schritt bis
zur Mitte des Plateaus, sich zu setzen. War er bereit?
Er schloß die Augen. Ja, alles war bereit, alles miteinander verbunden, so weit das Fühlen reichte: Berge und Tal, Lichtwesen und Sterne, und der sich

immer höher schraubende Geist, der im Aufwind kreiste.

III.

Es war ein großes Werden. Das Weiß und Violett der Sterne,
vermittelt durch den Geist, und das Blau
der Lichtwesen vermischten sich und formten eine indigoblaue
Kugel, durchsetzt von weißen Ringen. Das einstmals Ferne

rückte nah ans Herz, das Weiß und Violett, und das Herz
flößte der Kugel Menschenliebe ein, da wurd‘ sie ganz.
Ging als Blaue Sonne auf und begann ihren schöpferischen Tanz,
ging auf als eine schöpferische Lichtenergie. Der Geburtsschmerz

war vorüber, dem folgte die Freude, die mit einem stillen Aufschrei
aus den Augen brach. Und während von Glückseligkeit schwere Tränen flossen,
fiel der Geist in ihn zurück wie ein Lichtschweif, aus dem auseinandersteubende Funken schossen.
Dann vereinigten sie sich, er, Licht und Geist, und sie waren frei.

Er öffnete die Augen. Noch war Nacht, doch fühlbar schon der Morgen.
Wind kam auf, flüsternd: „Schon diesen Morgen wird die Blaue
Sonne am Himmel stehen. Männer und Frauen werden wieder vertrauen,
denn das Strahlen der Sonne wird ein zeugendes Erschaffen sein, das kein Morden

und Zerstören, Verwüsten und Vernichten kennt, sondern Schwarz
verwandeln wird in Blau, in schöpferische Lichtenergie.
So wird in der Erdatmosphäre eine Harmonie
entstehen, gewirkt aus Indigoblau, Weiß und entmachtetem Schwarz.“

Die Wesenheiten nickten ihm zu und lösten sich auf,
die blauen Brüder und Schwestern, die einem alten
Indianergeschlecht angehört hatten, das von den Gewalten
weißer Herrschsucht und Gier ausgelöscht worden war, bis auf

das letzte Kind. Er trat an den Rand des Plateaus und blickte hinab.
Dort, am Boden des Tals, lagen Leichen, nichts als schier unzählige Leichen
und Leichenteile! Von Frauen, Männern, Kindern! An bleichen
Knochen haftend verwesendes Fleisch, der Geruch des Bluts machte ihn würgen,

der Anblick machte ihn schwindeln und ein Abgrund riß auf,
durch den kreischend rot der Tod ritt. Er fiel auf die Knie,
und es schrie aus ihm hinaus: „Nie wieder! Nie wieder! Nie
wieder!“ Dann Totenstille. Dann ging die Blaue Sonne über ihm auf.