Goethe und Hegel auf dem Gipfeltreffen der untoten Denker

„Die Eitelkeit der Religionsstifter und Philosophen findet naturgemäß darin ihren Ausdruck, daß sie sich in geistig-moralischer Hinsicht als Weltpolizei aufspielen.“ (I. Kant)

In den MTV-Studios, Berlin 1998

Und siehe: In einer Fernsehshow, „Lesezirkel“ genannt, geschah’s. Dorthin hatte der Stuckrad-Barre zum „Treffen der untoten Denker“ geladen. Daraus gab es kein Entrinnen.
Also trat auch ER nochmals öffentlich auf. Goethe. Der Große. Gemeinsam mit dem „Gespenst“ (W.R. Beyer, 1980) Hegel ging er dort um – und wie auch nicht? Als Untote geistern sie umher. Dazu verdammt, dem Ruf der Gelehrten und anderer Geisterbeschwörer zu folgen.
Während die meisten noch plan- und ziellos diskutierten, veranstalteten Goethe und Hegel ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Anfang an. Souverän beschleunigten sie aus der Pole-Position und ließen das übrige Feld schon bald hinter sich. Ja, auch den Stuckrad-Barre. Obwohl der auch diesmal seine gefürchtete Profilneurosenpeitsche mit sich führte. Gerade, als er damit wieder zu einem nervtötenden Knall ansetzte – siehe: da ging von den Köpfen Goethes und Hegels ein wundersames Leuchten aus, so daß alle in Ehrfurcht erstarrten. Wärmend, erhellend, ja alles und jeden erleuchtend verbreitete sich ein weißes Licht im Raum, bis die Meisterdenker jeweils ein überdimensionales Kondom hervorzogen und sich daranmachten, es sorgfältig und gekonnt über den eigenen Kopf zu streifen; so, als handle es sich nicht um Kondome, sondern um die schönsten geflügelten Helme. Begannen sodann ein genußvolles Rubbeln, jeder für sich und doch synchron; die Hände mal eher schnell, mal eher langsam seitlich kopfaufwärts und -abwärts bewegend.
Alle starrten wie verzaubert auf die vollkommenen Bewegungen der Geistestitanen und lauschten ihrer gedanklichen Odyssee, die zuerst durch Raum und Zeit führte, dann durch das Reich der Metaphysik und durch das Sein-Nichtsein-Kontinuum, bis sie eine „Kehre“ (Heidegger) vollzogen und das Ganze von vorn begann. Lange starrte man offenen Mundes, bis das Geschehen seinen Höhepunkt erreichte und Goethe und Hegel die abendländische Metaphysik gemeinsam vollendeten. Alles ging sehr schnell: ihr heute schon legendäres Einbiegen in die Zielgerade ihres Denkens; das Erreichen des Höhepunkts; das sichere Auffangen der Gedankenejakulate durch das bewährte Safer Thinking, um die Urheberschaft nachweisen zu können. Dann die Ruhe nach der Eruption. Das sprachlose Staunen des Publikums. Das gekonnte Abstreifen der Kondome. Die anschließende Auswertung. Und schließlich das Ergebnis: „Alles ist eins und zwei zugleich.“
Lange standen die Worte unangetastet im Raum. Bis Nachfragen aus dem Publikum kamen, und Hegel erklärte: „Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm.“
Wieder schwebte das Gesagte lange im Raum. Zu lange diesmal. Denn der zeitweilig paralysierte Stuckrad-Barre brach erneut mit furchtbarer Gewalt über die Anwesenden herein, so daß die Veranstaltung aus dem Ruder lief. Da entwichen Goethe und Hegel durch die Hintertür.
Draußen erwartete sie schon ihr Chauffeur, am Steuer einer Stretchlimousine sitzend. Und sie hinein, von Spitzenmodellen der Marke „Silicon Mountain“ lautstark begrüßt. Champagner wurde ausgeschenkt, und die Fahrt ging los! Am schönsten von allem aber war die Gewißheit, daß sie die abendländische Metaphysik vollendet hatten. Relativität hin oder her, der Gipfel des Mount Cleverest – erklommen war er. Erklommen von ihnen, das Absolute zu besingen: den Gott aller Götter und Vater aller Möglichkeiten, den Weltgeist!